Er hätte nach
dem Verkehrsfunk noch den Wetterbericht
hören sollen.
„Sauwetter“, fluchte er leise vor sich hin. Angestrengt starrte
er durch die Frontscheibe, über die die Scheibenwischer im
Schnellgang ihre Arbeit verrichteten, jedoch ohne wesentlichen
Erfolg. Die Sicht war miserabel und er hatte solche Sturzbäche kaum
je erlebt. Ende August war es normalerweise um neun Uhr abends noch
einigermaßen hell, doch die dunklen Wolken des Sommergewitters
hatten die anbrechende Dämmerung urplötzlich in rabenschwarze
Nacht verwandelt. Seit Wochen war der Sommer unerträglich heiß und
trocken gewesen, die Meteorologen hatten sich gegenseitig überboten
in der Beschreibung von Superlativen. In diesem Jahr hatten die
Hochs Frauennamen und „Michaela“ war als das längste Hoch seit
Beginn der Wetteraufzeichnungen bereits jetzt in die Gesichtsbücher
eingegangen. So heftig wie die Trockenperiode gewesen war, so
vehement tobte jetzt das Gewitter, welches Michaela endgültig den
Garaus machte.
Dabei hatte dieser Freitag, der 29. August 2003 so vielversprechend
begonnen. Doktor Andreas Heckler hatte seinen letzten Dienst als
Notarzt in Düsseldorf absolviert. Ursprünglich hatte er diesen Job
schon viel eher an den Nagel hängen wollen, aber der neue Leiter
des Rettungsdienstes hatte ihn im Herbst letzten Jahres überredet,
seine Kündigung zurückzunehmen. Warum er damals gekündigt hatte,
daran mochte er lieber nicht mehr denken. Vor den langen Schatten
dieser Vergangenheit hatte er immer noch Angst.
Dann hatte er sein neues Auto abgeholt, das erste nagelneue
Fahrzeug, bislang hatte er sich nur Gebrauchtwagen geleistet. Es war
eines jener Renaultmodelle, deren ungewohntes Design sich auch im
Inneren des Wagens niederschlug und die mit allerlei elektronischem
Schnickschnack vollgestopft waren. Nicht, dass er sich das gewünscht
hätte, vielmehr waren diese Innereien Dreingabe eines
Sondermodells, welches ihm außerordentlich günstig angeboten
worden war. Allerdings war der Freitagnachmittag nicht dazu angetan,
lange Einführungsvorträge des Verkäufers über die Bedienung
dieses Wunderwerks der Technik zu ertragen. Jener Verkäufer hatte
auch keinerlei Lust zu langen Erklärungen gehabt, schließlich
lockte das Wochenende. So hatte Andreas Heckler ihn lediglich
gebeten, als Fahrtziel „Zürich“ in das Navigationssystem
einzugeben und war dann aufgebrochen. ...
Das Verhängnis hatte seinen Anfang genommen, als der Musikgenuss
seiner Lieblings-CD auf der Höhe von Rastatt durch eine Verkehrsmeldung unterbrochen
worden war, die Andreas Heckler veranlasste, die Autobahn an der
Ausfahrt Baden-Baden zu verlassen. Bei Offenburg habe es einen
schweren LKW-Unfall gegeben, durch den die Autobahn in Richtung Süden
blockiert sei, die Umleitungsstrecken seien hoffnungslos überlastet.
Nach dem Verlassen der Autobahn war die sanfte Frauenstimme des
Navigators nörgelig geworden und hatte schließlich beleidigt
geschwiegen. Er war nicht in der Lage, das Navigationssystem neu zu
programmieren. Also hatte er den Autoatlas genommen und in altbewährter
Manier eine Ausweichstrecke ausgetüftelt. Diese sollte über die
B500, die Schwarzwaldhochstrasse, dann über Nebenstrassen nach
Donaueschingen, Schaffhausen und schließlich nach Zürich führen.
Doch bereits am Ruhestein hatte er seinen Entschluss bereut, aber da war es zu spät gewesen. Die heraufziehenden, finsteren
Wolkenmassen verhießen nicht Gutes. Dann war das Gewitter mit aller
Macht losgebrochen. Die Elemente waren derart entfesselt, als hätten
sie alles nachzuholen, was ihnen während des langen Sommers
verwehrt worden war. Sturmböen peitschen über die Straße und
drohten die Tannen zu entwurzeln, der knochenharte Boden vermochte
die Wassermassen nicht aufzusaugen, die in breiten Sturzbächen
immer wieder über die Straße spülten. Heckler hatte Angst, nicht
nur um sein neues Auto.
Jetzt befuhr er eine Nebenstrasse, die Abzweigung hätte er um ein
Haar verpasst. Er tastete sich durch die Dunkelheit, stierte nach
vorne, spürte den sich steigernden Kopfschmerz und fuhr viel zu
schnell, weil er die zunehmende Ungeduld nicht ertrug. Es ärgerte
ihn, dass er nicht um zehn in Zürich sein würde, um seine Freundin
in die Arme zu schließen. Jennifer Lacroix hielt sich bereits seit
einer Woche in Zürich auf, um ihre Kunstwerke einer renommierten
Galerie auszustellen und vielleicht das ein oder andere Werk an den
Mann zu bringen. Sie hatte vorgeschlagen, dass Heckler in der
zweiten Hälfte der Ausstellung nach Zürich kommen sollte. In
Wirklichkeit ging es aber nicht nur darum, Jennys Ausstellung zu
bewundern oder sich ein paar schöne Tage am Züricher See zu
machen. Es ging vielmehr um die Zukunft, die sich unmittelbar
anschließen würde: Jennifer Lacroix und Andreas Heckler hatten es
nämlich geschafft, einen Entschluss in die Tat umzusetzen. Einen
Entschluss, den sie bereits vor einem Jahr gefasst hatten: sie zogen
zusammen. Nach Ende der Ausstellung sollte also die praktische
Umsetzung dieses Entschlusses erfolgen. Jenny wohnte in einer alten
Mühle am südlichen Rand von Aachen, in der Voreifel. Die Mühle
war nicht nur ein lauschiges Plätzchen, sie war auch groß genug für
zwei und sie bot Raum für Jennys künstlerische Aktivitäten. Aber
der Entschluss war nicht leicht gewesen.
Während durch Hecklers Kopf bruchstückhaft die ganze Ambivalenz
dieser Entscheidung geisterte, blickte er angestrengt nach vorne.
Der Regen war so dicht, dass er bei Fernlicht das Gefühl hatte,
gegen eine Wand zu fahren, dass er orientierungslos wurde und noch
weniger erkennen konnte. Zwischendurch tauchten unvermittelt Nebelbänke
auf, die die ohnehin miserable Sicht völlig nahmen. Durch die
rapide Abkühlung dampfte die Straße so stark, dass Nebel
entstanden war.
Die starke Anspannung machte ihn müde und benommen, er reduzierte
das Tempo aber nicht. Die Augenlider wurden unendlich schwer und er
ertappte sich mehrfach dabei, wie er ruckartig den Kopf hob, weil er
einzuschlafen drohte. Als auf der Fahrbahn ein dunkles Bündel
auftauchte, reagierte er viel zu spät. Er riss das Steuer nach
links, was sämtliche elektronischen Fahrhilfen dieses Wunderautos
aktivierte. Er spürte, wie das Heck ausbrach und gegen das
Hindernis stieß. Gleichzeitig versuchte er gegenzulenken, natürlich
viel zu heftig, getrieben von der Angst, über die linke
Fahrbahnbegrenzung die Böschung hinabzustürzen. Eine Leitplanke
gab es an dieser Stelle nämlich nicht. Das elektronische
Stabilisierungsprogramm des Wagens, welches die Ausweichbewegung
nach links noch gutmütig quittiert hatte, war jetzt überfordert.
Das Fahrzeug geriet außer Kontrolle und drehte sich wie in Zeitlupe
genau anderthalb Mal im Urzeigersinn um die eigene Achse und landete
dann mit einem heftigen Ruck im rechten Straßengraben. – Der
Motor war ausgegangen, eine merkwürdige Ruhe kehrte ein, obwohl der
Regen auf das Fahrzeugdach prasselte und die Scheibenwischer hin und
her hüpften. Die gespenstische Situation wurde in kurzen Abständen
durch Blitze erleuchtet. Die Scheinwerfer strahlten schräg nach
oben, weil der Wagen mit dem linken Hinterrad im Straßengraben
festsaß. Es dauerte eine ganze Weile, bis Heckler begriff, was
passiert war. Was wirklich passiert war, begriff er allerdings erst
sehr viel später.
...
Heckler richtete sich auf und dachte nach. Inzwischen war er wieder
soweit, seinen Verstand nutzen zu können. Und dieser Verstand sagte
ihm, dass normalerweise keine toten Wildschweine auf der Straße
lagen, insbesondere keine Wildschweine, die noch bluteten.
Vielleicht hatte derjenige, dem das Schwein als Erstem zum Verhängnis
geworden war, mehr Glück gehabt. Er leuchtete die Umgebung ab, was
die kleine Taschenlampe überforderte, denn wirklich erkennen konnte
er nichts. Dann ging er noch zwanzig Meter zurück, stellte das
Warndreieck auf. Als er wieder neben dem Wildschwein stand, tauchte
ein Blitz die Szenerie für einen Moment in grelles Licht. Andreas
Heckler glaubte in dieser Sekunde, am linken Straßenrand etwas
erkannt zu haben. Rasch überquerte er die Straße und leuchtete das
Bankett ab. Der Rand der Straße war an dieser Stelle schmal und
dahinter befand sich eine steile Böschung. Warum es hier keine
Leitplanke gab, war unverständlich. Plötzlich stutze er: das durch
die lange Hitze ausgedörrte Gras am Straßenrand fehlte an zwei
Stellen, bei näherem Betrachten erkannte er die Schleifspuren, die
sich auf der Böschung fortsetzten. Mit zitternden Knien versuchte
er die Böschung hinabzusteigen, rutsche auf dem nassen Gras aus und
schlidderte unkontrolliert fünfzehn Meter in die Tiefe. Dann stieß
er an etwas Hartes. Die Taschenlampe war ihm entglitten und lag ein
paar Meter oberhalb.
Auf allen Vieren krabbelte er hoch, griff die Lampe und leuchtete
nach unten. Was er sah, jagte ihm einen derartigen Schreck in die
Glieder, dass fürchtete, seine Beine würden ihren Dienst
verweigern. Obwohl er als Notarzt häufiger vergleichbare
Situationen erlebt hatte, war es doch etwas anderes, wenn er
sozusagen als Privatmann damit konfrontiert wurde. In diesem Moment
meldete sich aber sein notärztliches Gewissen und er stieg zu dem
Fahrzeug hinunter, welches sich in eine stabile Schwarzwaldtanne
gebohrt hatte. Motorhaube und Frontscheibe waren eingedrückt, aus
dem zerborstenen Kühler stieg Wasserdampf auf. Der Unfall musste
sich erst vor wenigen Minuten ereignet haben. Die Fahrertüre
klemmte. Heckler steckte die Lampe in die Hosentasche und riss mit
beiden Händen am Türgriff. Mit einer schier unendlichen
Kraftanstrengung gelang es ihm, die Türe weit genug zu öffnen.
Der Mann war nicht angeschnallt gewesen und bei dem Aufprall gegen
Lenkrad und zerberstende Frontscheibe geprallt. Es gelang Heckler,
den Mann zurück in den Sitz zu drücken ... |