Schließlich
brachen sie auf und erreichten das Polizeipräsidium gegen halb
zwei. Zunächst sprachen sie mit zwei subalternen Beamten, die sich
aber bereit erklärten, den Leiter der Mordkommission zu holen.
Stüber wirkte mürrisch wie stets, die Begrüßung bestand aus
einem: „Was wollen sie denn?“.
Juliane Bernstein ergriff die Initiative, was sich als taktisch klug
erwies. Nachdem der Boden derart vorbereitet war, kam Hecklers
Stunde.
„Es gibt manchmal Zufälle, Herr Stüber“, dozierte Heckler fast
überheblich, „die alles über den Haufen werfen.“
Wenn Heckler Überraschung oder zumindest Interesse bei Stüber
erwartet hatte, wurde er enttäuscht. Stübers Miene blieb
unbeweglich, ja, er schien fast belustigt.
„Es gibt einen Zeugen, der Thomas Bernstein am letzten Montag
gesehen hat – und zwar zu einem Zeitpunkt, als van Gemmeren
bereits tot war“.
Spätestens jetzt hätte Heckler irgendeine Reaktion bei Stüber
erwartet. Es geschah aber nichts, gar nichts.
„Aber das änderst doch alles!“, stellte Heckler erregt fest. Er
hatte Mühe, seine Beherrschung zu bewahren. Stüber zündete sich
umständlich und betont langsam eine Zigarette an, ohne zu fragen,
ob das seine Besucher störte. Das Ganze wirkte unglaublich
provokativ, außerdem ignorierte er Heckler.
„Liebe Frau Bernstein“, begann Stüber schließlich, „es
wundert mich, dass sich ihr Bruder noch nicht bei ihnen gemeldet
hat.“
Als Juliane Bernstein den Kopf schüttelte und ihn fragend ansah,
stellte Stüber fest: „Wir haben ihren Bruder gegen elf Uhr aus
der U-Haft entlassen. Der Zeuge hatte sich heute morgen gemeldet“.
Es entstand eine Pause, deren Peinlichkeit mit den Händen greifbar
war.
„Das hätten sie uns auch gleich sagen können“, platzte Heckler
in die Stille.
„Herr Doktor Heckler, ich habe nach wie vor einen Mord aufzuklären
und für mich sind alle Dinge in diesem Zusammenhang wichtig. Ich
war gespannt, was sie von mir wollten“, erklärte Stüber so
emotionslos wie zuvor. Obwohl Heckler den Leiter der Mordkommission
nun wirklich nicht leiden konnte, hatte er zum ersten Mal das Gefühl,
dass Stüber „vielleicht doch kein so schlechter Bulle“ war.
Trotzdem ärgerte er sich ziemlich.
Als Juliane Bernstein und Andreas Heckler vor dem Polizeipräsidium
standen, mochte keine rechte Freude aufkommen. Zum einen hatte ihnen
Stüber die Show gestohlen und zum anderen – und das war viel
wichtiger – hatte Stüber Recht mit der Frage, warum Juliane von
ihrem Bruder noch nicht informiert worden war.
Juliane schien sich dies auch zu fragen, war sichtlich irritiert und
griff nach ihrem Handy. Sie erhielt keine Verbindung. Thomas
Bernstein war weder über die normale Nummer, noch über sein
Mobiltelefon erreichbar.
„Wo steckt der Kerl bloß? Er muss in der Wohnung gewesen sein,
der Anrufbeantworter ist ausgeschaltet, der war sonst immer an.“
Sie wirkte ratlos, ihre Zuversicht war plötzlich verschwunden.
„Nun machen sie sich mal keine Gedanken! Nach einer Woche U-Haft
hat man wohl allerlei zu erledigen“, versuchte Heckler einen
schwachen Trost.
„Ich fahre hin“, entschied Juliane. Und nach kurzen Zögern:
„Könnten sie mich begleiten? Bitte!“. Dies klang so, als
erwarte sie die schlimmsten Dinge. Heckler zuckte mit den Achseln
und sagte: „Natürlich, wenn sie wollen“. Zumindest konnte er
auf diese Weise mit Juliane noch etwas zusammen bleiben.
Unterwegs dachte Heckler darüber nach, warum Richie entgegen seiner
Absicht bereits heute morgen zur Mordkommission gegangen war – und
das nach wenig Schlaf und einer bevorstehenden Klausur! Vermutlich
hatte ihn sein schlechtes Gewissen geplagt.
Auch wiederholtes Klingeln half nichts, Thomas Bernstein war wohl
nicht zu Hause. Juliane zögerte, dann schien sie einen Entschluss
gefasst zu haben.
„Ich habe ja noch Thomas´ Schlüssel, er wird nichts dagegen
haben“, sagte sie entschuldigend. Heckler wollte noch fragen, wie
Thomas denn in die Wohnung gelangt war, als sie bereits
aufgeschlossen hatte.
Heckler bemerkte sofort, dass zwischenzeitlich jemand in der Wohnung
gewesen war.
„Sie haben recht, wahrscheinlich macht er Besorgungen, da liegt
die Tasche, die ich ihm gepackt hatte“. Im Flur lag eine schwarze
Reisetasche. „Ich versuche es noch mal über sein Handy“.
Als sie Thomas Bernsteins Handy in einer Jacke an der Garderobe
klingeln hörten, beschlich Heckler ein unheimliches Gefühl – und
dieses Gefühl sagte ihm, dass etwas nicht stimmte.
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