„Den
Totenschein, Doktor“, versuchte der griesgrämige Mensch Heckler
aufzuhalten.
Heckler war verärgert über das unverschämte Auftreten - auch wenn
der Kerl einen hohen Rang bekleiden mochte. Er beschloss, ihn zu
ignorieren. Schließlich hatte sich der Mann nicht einmal
vorgestellt.
Hecklers Versuch, an dem Mann vorbei in den Flur zu treten,
scheiterte. Vermutlich hatte dieser die nervtötende Verzögerung
vor Augen, die es jedes mal bedeutete, bis irgendein Amtsarzt
aufgetrieben wurde. Da konnten zwei Stunden vergehen, in denen die
Spurensicherung im wesentlichen herumstand.
„Den Totenschein!“. Diesmal klang es bedrohlich, wie ein Befehl.
Heckler geriet in Kämpferlaune, vielleicht machte ihn auch sein nüchterner
Magen aggressiv.
„Ich habe ihren Namen nicht richtig verstanden Herr ...“.
Hecklers Stimme klang so sanft, dass es schon an Frechheit grenzte.
Sein Kontrahent war blass geworden, sagte aber nichts.
Heckler hielt es nicht für erforderlich, weitere Erklärungen
abzugeben und trat entschlossen durch die Tür. Dabei nahm er den
starken Nikotingeruch wahr, weil er sehr dicht an dem Mann vorbei
musste, ja er drängt ihn förmlich zur Seite.
„Und - was ist jetzt?“
„Amtsarzt“, brummte Heckler im Vorbeigehen ebenso knapp. Im Flur
suchte er die Toilette und öffnete eine Türe. Er fand sich
versehentlich in einer Art Arbeitszimmer wieder, wo er einen jüngeren
Mann am PC aufschreckte.
„Entschuldigung, ich suche die Toilette“, murmelte Heckler.
„Nächste Türe rechts, vor dem Ausgang“, war die Antwort. Der
Mann war blass und sehr nervös. Er hatte offensichtlich angestrengt
am PC gearbeitet.
Beim Händewaschen dachte Heckler darüber nach, wie jemand
angesichts eines Gewaltverbrechens seiner Arbeit am PC nachgehen
konnte. Der junge Mann hatte einen Eindruck erweckt, als sei er auf
frischer Tat ertappt worden.
Im Flur lauerte der Griesgram und bellte ihm nach: „Das wird
Konsequenzen haben!“.
Heckler beachtete ihn nicht weiter. Er sah keine Notwendigkeit, mit
jemandem zu diskutieren, der sich nicht einmal vorgestellt hatte.
Die in der Eingangshalle ratlos Herumstehenden blickten erschrocken
oder verlegen grinsend hoch, als Heckler Richtung Ausgang stürmte.
Einige schienen fast unberührt, anderen stand das Entsetzen über
das abscheuliche Verbrechen ins Gesicht geschrieben. Eine ältere
Frau weinte unentwegt und schien völlig aufgelöst.
Bis hierher hatte sich Heckler nicht für das Ambiente interessiert.
Im Hinausgehen bemerkte er jedoch, welch nobles Anwesen Ort dieses
Verbrechens geworden war. Draußen studierte er die Geschäftstafel,
die er bei seinem Eintreffen nur flüchtig wahrgenommen hatte.
´MedicAid - International´ stand da. An den Klingelknöpfen
wiederholte sich die Firmenbezeichnung und dann stand da noch ´J.
van Gemmeren´.
In diesem Moment wurde Heckler - etwas zu spät - bewusst, dass er
vermutlich einen recht prominenten Toten vorgefunden hatte.
Irgendwie war ihm der Mann gleich bekannt vorgekommen. Da er sich
selbst einmal für ein Entwicklungshilfeprojekt interessiert hatte,
war ihm die Hilfsorganisation ´MedicAid´ mit ihrem Gründer Jan
van Gemmeren durchaus bekannt.
Van Gemmeren hatte die Organisation vor gut zwanzig Jahren aufgebaut
und war der geistige Vater dieses mittlerweile weltweit operierenden
Großunternehmens. Das Spendenaufkommen belief sich inzwischen auf
einen dreistelligen Millionenbetrag. Die autokratische Führung der
Organisation durch van Gemmeren war vor einigen Jahren heftig
kritisiert worden, in der Öffentlichkeit wurde mehr Transparenz bei
der Vergabe der Gelder und der Projektförderung überhaupt
angemahnt. Daraufhin war das Ganze in eine Stiftung umgewandelt
worden, die durch einen Stiftungsrat kontrolliert wurde. Der
Stiftungsrat war eine Ansammlung hochrangiger Vertreter aus
Wirtschaft und Kultur, Vorsitzender war van Gemmeren.
Als Heckler diese Zusammenhänge so nach und nach erinnerte, wurde
ihm auch klar, dass er wegen des Totenscheines noch reichlich Ärger
bekommen würde - auch dann, wenn er sich formal korrekt verhalten
hatte. Nun ja, er würde es überstehen.
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